Heisse Hotrods in kalter Nacht
Die Zeit ist reif, nachzusehen, was diese beiden Strassenkreuzer nach vierzig Jahren noch so draufhaben: eine Testfahrt der besonderen ArtAusfahrt in klirrend kalter Nacht: Der 300 SEL verstrahlt in aller Ruhe jede Menge Power, im Double Six kommt man sich wegen der tiefen Sitzposition vor wie in einem Sportwagen, der Motor ist weich und geschmeidig. Wen unser Testfahrer am Ende lieber mag? So genau kann er das nicht sagen.
Eine frostklirrende Nacht im Herzen Londons macht’s möglich: Die Straßen der Stadt sind praktisch leergefegt. Solch eine Gelegenheit lässt man nicht verstreichen, auch wenn die klirrende Kälte nicht ideal passt zum heißen Röhren der wie Hotrods aufgemotzten Oberklasse-Limousinen. Zunächst versetzen wir uns zurück in die sechziger Jahre. Nach Stuttgart. Dort entwerfen die Ingenieure auf ihren Zeichenbrettern zuverlässige Pkw. Aus dem Motorsport hat man sich vor Jahren zurückgezogen, der prachtvolle Flügeltürer ist nur noch eine Erinnerung, die im Rückspiegel immer kleiner wird. Gut verkauft haben sich die soliden Heckflossen und die weniger männlichen Pagoden. Die nächste Generation der klotzigen Limos nimmt bereits Formen an. Rudolf Uhlenhaut, vor dem Krieg Leiter der Rennwagenabteilung und danach Kopf hinter dem 300 SL, leitet die Entwicklungsabteilung.
Zu seinen Mitarbeitern gehört der aufgeweckte junge Testfahrer Erich Waxenberger, der sich für schnelle Autos mehr begeistert als für schwere Limousinen. Waxenberger wusste, was er tat: Der Rennfahrer Mike Parkes, Anfang der 1970er in der Formel 1 und mit Sportwagen unterwegs, schaute auf der Nordschleife ziemlich blöd aus der Wäsche, als „Wax“ mit einer Pagode nicht nur Schritt hielt, sondern nur Sekunden hinter Parkes mit seinem V12-Ferrari (250 GT Berlinetta) war.
Gut, der Benzindurst war gewaltig. Aber vor der Ölkrise scherte sich niemand um solcherlei Kleinkram.
Waxenberger also: Weiß, was er kann. Uhlenhaut: Weiß, was er will. Mercedes’ Flaggschiff von 1965, der 300 SEL, leistet mit seinem 3-Liter-Reihensechszylinder angemessene 168 PS und kommt so auf eine bequeme Reisegeschwindigkeit von 160 km/h. Kurz darauf fällt die Karosse eines 250er SE-Coupés vom Fließband. Waxenberger schnappt sich die Ausschuss-Hülle und bringt sie zu seiner Abteilung, wo er mit seinem Team die mächtige 6,3-Liter-V8-Maschine aus einem 600 Pullman in den Motorraum hämmert.
Elegant und Zurückhaltend
Während der Double Six sich in erster Linie über seine sanften Linien definiert, ist der Benz optisch zurückhaltender. Industriekultur: elegant, aber in erster Linie funktional.
Was einen Hotrod ausmacht: überproportionierter Motor in Serienwagen. Uhlenhaut erfährt von Waxenbergers Bastelei – und verlangt eine Testfahrt. Er ist begeistert und überzeugt den Vorstand, den viertürigen 300 SEL 6.3 herzustellen. Im Mai 1968 wird der 300 SEL 6.3 auf dem Genfer Autosalon enthüllt, Wochen später für den US-Markt auf dem Laguna Seca Raceway (!). Die Zahlen sprechen für sich: die Viertelmeile in 14,25 Sekunden, von null auf hundert in unter 7 Sekunden, 225 km/h Spitze. Auf Augenhöhe mit dem Porsche 911S und dem Ferrari 330 GTC, mit Unmengen US-typischem Hubraum, aber ausgefeilt konstruiert.
Ärzten und Anwälten, Bankmanagern und finanzstarken Gaunern vermittelt er das denkbar schönste Fahrgefühl: modern und elegant.
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